INKLUSIVE KOMPETENZEN BEI KINDERN
SPIRITUALITÄT ALS BESONDERE RESSOURCE UND IHRE RELEVANZ FÜR DIE PÄDAGOGISCHE PRAXIS
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Die Liebe voller kleiner Gesten gegenseitiger Achtsamkeit betrifft auch das bürgerliche und das politische Leben und zeigt sich bei allen Gelegenheiten, die zum Aufbau einer besseren Welt beitragen.
Papst Franziskus, Enzyklika Laudato Si' (2015, Nr. 231)
DAS PROJEKTTEAM
Prof. Dr. Dr. Janusz Surzykiewicz
ProjektleitungSimon Kolbe
ProjektmitarbeiterHERAUSFORDERUNGEN
Das vorliegende Projekt bringt eine wichtige, teilweise vernachlässigte Betrachtungsweise von Inklusion zur Geltung. Während sich Bildungspolitische Bemühungen überwiegend mit äußeren Einflussfaktoren zur Förderung einer inklusiven Beschulung befassen (u.a. Bildungs-konzepte, Schul- und Unterrichtskonzepte, Didaktik und Methodik), richtet das vorliegende Projekt die Perspektive unmittelbar auf die Kinder als handelnde Akteure. So zielt das Forschungsprojekt darauf, notwendige, sog. „inklusive Kompetenzen“ zu erforschen und entsprechenden Ressourcen und Fördermöglichkeiten für ein gelungenes und wertvolles inklusives Miteinander zu ermöglichen. Sozialforschung belegt, dass neben psychoemotionalen und behavioralen Faktoren vor allem auch Spiritualität als zentrale Ressource lässt sich erkennen, die eine subjektive und sozial geteilte Offenheit für Selbst- und Welttranszendenz zum Ausdruck bringt und dabei psycho-emotionale und behaviorale Aspekte proinklusiven Verhaltens unterstützen könnte.
Inklusion ist ein allgegenwärtiger Fixpunkt für wissenschaftliche Diskurse unterschiedlicher Couleur. Institutionen und Organisationen bemühen sich darum „inklusiv“ zu sein oder zu werden (Zimpel 2012; Allman 2013; Böttinger 2016; Booth et al. 2016; Ahrbeck 2017; Borrmann 2017). Abgesehen von institutionellen oder architektonischen Strukturen (Berry 2006; Alexiadou et al. 2016; May 2017) sind inklusive Problemstellungen innerhalb von Organisationen wichtig. Forschungsgegenstand sind dabei (pädagogisches) Personal oder Familienmitglieder, deren Einstellungen und Kompetenzen (Peck et al. 2004; Forlin 2010; Sharma et al. 2012; van Weelden und Whipple 2014; Langner 2015; Hunt und Goetz 2016; Anderson 2006). Dabei stehen aber meist adulte Probandengruppen im Fokus der Untersuchungen. Die Erkenntnisse über die kindlichen Kompetenzen und Fähigkeiten, die hilfreich für gelungene Inklusionsprozesse in schulischen Settings sind, werden jedoch in der Forschung unzureichend beachtet. Gerade bei diesen sind aber viele komplexe Exklusionsrisiken verortet und erforscht. Im Fokus dieser Arbeit stehen deswegen drei Dimensionen, von denen angenommen wird, dass sie in unmittelbarer und mittelbaren Verbindung bzw. Interaktion zur positiven Gestaltung von Inklusionsprozessen vorliegen: Die ersten beiden Ebenen sind Inklusion und Spiritualität bzw. Religiosität und deren Verbindungen und Bedeutung für kindliche Kompetenzen sowie die dritte Ebebene, die Kompetenzenwicklung bei Kindern und Jugendlichen per se Inklusion wird dabei als ein multidimensionaler Prozess von Gerechtigkeit und Teilhabe verstanden (Malina 2009; Walton 2010; Theunissen 2010; Zimpel 2012; Allman 2013; Wolters 2015; Böttinger 2016; Sulzer 2017; Wagner 2017; Weisinger et al. 2015). Gerade bei Kindern besteht bei einigen Gruppen ein komplexer Inklusionsbedarf (Gilliam 2005; Theunissen und Schirbort 2010; Hennemann et al. 2012; Schwab und Fingerle 2013; Fegert und Schepker 2014; Manske 2014; Goth et al. 2015; Grosche 2015; Schwab und Seifert 2015; Wiedebusch et al. 2015; Becker 2016; Lindmeier 2017; Ulbrich 2017). Bei Kindern und Jugendlichen übernehmen Religion und Spiritualität in besonderen Lebenslagen eine existenzielle Rolle bei Resilienz und Lebensqualität. In der von Diversität geprägten Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen stellen Religion und Spiritualität und damit verbundene Fragen zum Sinn des Lebens, Verarbeitungsstragegien von Stress und Praktiken der Achtsamkeit eine Herausforderung dar, aber auch eine Ressource in sozialer und individueller Lebensgestaltung Deshalb widmet sich dieses Projekt in einer übergeordneten Ebene religiösen und spirituellen Bedürfnissen, Themen und Kompetenzen dieser Zielgruppe als Ressource für Inklusion und Integration. Grundlage bilden hier die Erkenntnisse aus Forschung und Praxis, die Religiosität und Spiritualität einen hohen Stellenwert in der (sozial-)pädagogischen inklusiven Arbeit zuschreiben und innerhalb des Klientels pädagogischer Handlungsfelder von Relevanz sind sowie vermehrt in schulischen Settings und Curricula implementiert werden.
FORSCHUNGSFRAGE
Leitfrage des Promotionsvorhabens ist, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten für ein Kind hilfreich sind, um inklusive Prozesse und Situationen gestalten, erkennen und umsetzen zu können. Kinder sind aktive und rezeptive Akteure in inklusiven Prozessen (Essa et al. 2008; Thoms und Boban 2013; Bebetsos et al. 2014; Kuhl et al. 2015; Booth et al. 2016; Diamond et al. 2016; Evans et al. 2016; Iglesias 2017; Kobelt-Neuhaus 2017). Die spezifischen Kompetenzen, um Inklusion zu verstehen, inklusive Prozesse und Bedürfnisse bei sich selbst und anderen zu erkennen und zu betreiben wurden bei Kindern bisher nicht oder nicht dezidiert beachtet (Lelgemann et al. 2012; Zimpel 2012; Bebetsos et al. 2013; Ziemen 2013). Diesem Desiderat widmet sich die Promotion. Die sog. „Inklusiven Kompetenzen“ sollen erkannt, operationalisiert und erhoben werden. Valide Erkenntnisse, wie und wann Inklusion gelingt und welche Kompetenzen Kinder dafür benötigen, haben möglicherweise positive Effekte auf pädagogische und familiäre Akteure, aber vor allem für betroffene Kinder selbst (Ellinger et al. 2012; Lelgemann et al. 2012; Jansen et al. 2015; Soukakou et al. 2015; Schwinger et al. 2015; Diamond und Carpenter 2016). Im Blick auf die bereits beschriebene Relevanz von religiösen und spirituellen Aspekten als Ressource für Inklusion ensteht eine zweite Fragestellung, die untersucht, ob die kindliche Religiosität und Spiritualität eine bestimmte moderierende Funktion innerhalb von Inklusionsverläufen übernimmt, als eine Mediationsvariable erkannt werden kann und im Sinne einer Kompetenz einen Beitrag zum positiven Empfinden und Umsetzen von Teilhabe darstellt.
ANSCHLUSSPROJEKTE
GEFLOHENE UND SPIRITUALITÄT
Geflohene sind oft sehr religiös und äußern entsprechende Bedürfnisse und Sorgen. Religiös-spirituelle Angebote und Begleitung können den Geflohenen dabei helfen, innere Stärke zu mobilisieren, Motivation zu finden und ihrem Handeln einen Sinn zu geben. Sie können damit für mehr Lebensqualität sorgen und fördern Integrationsprozesse (Abu-Raiya et al. 2016; Freise 2017; Pirner 2017; Kolbe und Surzykiewicz 2019).
Zur Erforschung dieser Aspekte wurden in einer umfangreichen Studie zusammen mit Wissenschaftler*innen von der Katholischen Universität Eichstätt, der privaten Universität Witten-Herdecke und der Katholischen Stiftungshochschule in München fast 800 Geflohene (n=763, 14-67 Jahre, durchschnittlich 27,9 Jahre, 524m/198w) in Deutschland befragt. Die Ergebnisse belegten die Sinnhaftigkeit einer optionalen religiös-spirituellen Ausrichtung von sozialpädagogischen bzw. helfenden Disziplinen. Mit den vorliegenden Ergebnissen konnte gezeigt werden, dass die Berücksichtigung spiritueller Bedürfnisse und die Mobilisierung religiös begründeter Coping-Strategien positiv zur Lebenszufriedenheit von Geflohenen beitragen können (Surzykiewicz und Maier 2020).
Die Ergebnisse der durchgeführten Studie dienen als Grundlage oder Begleitforschung für weitere Ansätze und Projekte, wie zum Beispiel eine Fokussierung auf ältere Probandengruppen oder spezifische vulnerable Gruppierungen. Die Ergebnisse wurden und werden für die unterschiedlichen pädagogischen Disziplinen aufgearbeitet, aber auch einem breiten Publikum aus der Fachwelt, der Politik und dem Ehrenamt zugänglich gemacht. Ziel ist es, die Ergebnisse als konzeptionelle Implementierungsoptionen für die Praxis der jeweiligen Fachrichtung zu präsentieren. So wurden zum Beispiel Hinweise für die Soziale Arbeit im Bereich Flucht/Migration präsentiert und Handlungsmöglichkeiten diskutiert (Kleibl et al. 2017; Kolbe und Surzykiewicz 2019) sowie internationale Beispiele betrachtet (Balzer und Kolbe 2019; Giebel und Kolbe 2019). Insbesondere im Bereich der ehrenamtlichen Hilfe für Geflohene wurden sprachlich aufbereitete Hilfestellungen für Ehrenamtliche und anderes „nicht-wissenschaftliches“ Publikum angeboten (Kolbe 2019c, 2019d; Kolbe und Hagsbacher 2020). Ebenfalls wurden erste Empfehlungen in der Beratung von Geflohenen in Bezug auf die Corona-Krise veröffentlicht (Eyselein und Kolbe 2020).
Zusätzlich konnten die Erkenntnisse und Ansätze in einem internationalen Projekt weitergenutzt werden, um andere Forschungsansätze zu flankieren und so gezielte Integrationsressourcen für Opfer des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung zu identifizieren (Projekt INTAP = Intersectional Approach to the Process of Integration in Europe for Survivors of Human Trafficking; siehe https://intap-europe.eu). Dabei entstanden einige Publikationen, wie zum Beispiel der bereits veröffentlichte Forschungsbericht (Blöcher et al. 2020), der akademisch beraten und in Mit-Herausgeberschaft begleitet wurde. Noch 2020 folgt ein Handbuch für Sozialarbeiter*innen und weitere Publikationen sind geplant oder befinden sich in der Publikationsphase.
SPIRITUALITÄT UND TRISOMIE21
Im Rahmen des hier präsentierten Forschungsprojektes etablierte sich ein spezifischer Fokus auf die Erforschung spirituell-religiöser Funktionen bei Menschen in besonderen Lebenslagen in den Bereichen der Integrations- und Inklusionsarbeit. Spiritualität wurde hier auch als wichtige Ressource für das Wohlbefinden von verschiedenen Personengruppen mit geistiger Behinderung untersucht. Im Fokus standen Personen mit Trisomie 21 und deren religiöse und spirituelle Bedürfnisse.
Diesbezüglich sind bis jetzt nur wenige Untersuchungen bekannt. Der geleistete Beitrag stellt einen kurzen Überblick zu den relevanten Forschungsergebnissen dar und belegt auf Basis der eigenen Studie die Rolle von Spiritualität bei der Sicherung der Lebensqualität von Menschen mit Down-Syndrom. Die Studie konnte die inklusions-bezogene Relevanz von religiösen Bedürfnissen der Proband*innen (n=58, 16-55 Jahre, durchschnittlich 27,53 Jahre, 29m/29w) im Beziehungsgeflecht von subjektivem Wohlbefinden, Ausdrucksformen von Spiritualität und spirituellen Bedürfnissen belegen (Surzykiewicz und Kolbe 2018). Auch andere Studien wurden somit repliziert (Büssing et al. 2017). Die Relevanz dieser Ergebnisse wird im Zusammenhang mit dem Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und soziale Inklusion diskutiert.
REZEPTION UND UMSETZUNG DER ICF IN POLEN
Ein neueres Projekt widmet sich der ICF, der sogenannten Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Dort werden Interferenzen von Umweltfaktoren und subjektiven Dimensionen beachtet, die von anderen Instrumenten nicht immer abgedeckt werden. Die ICF ist so konzipiert, dass sie das gesamte Spektrum der Funktionsfähigkeit einer Person mit einem bestimmten Gesundheitszustand assoziiert. Die internationale Anwendung der ICF wurde als vorteilhaft für die Herangehensweise an menschliche Funktionsmerkmale hervorgehoben. Sie bietet die Sprache und den Rahmen, um ein einheitliches und standardisiertes Format zur Beschreibung von Gesundheit und gesundheitsbezogenen Zuständen anzuwenden. Das im März 2020 begonnene Projekt ergänzt die bisherigen Forschungsvorhaben um eine weitere internationale Determinante. Durch die Entwicklung eines geeigneten Konzeptes der ICF für Polen werden Schwierigkeiten der praktischen Umsetzbarkeit in standardisierten, routinemäßigen klinischen Prozessen deutlich. So können exemplarisch Bildungssysteme optimiert werden und notwendige Anpassungen in verfahrenstechnischen und rechtlichen/ethischen Zusammenhängen vorgenommen werden. Im Rahmen dieses Projektes werden unter anderem in der Praxis bewährte Erfahrungen in internationalen Datenbanken und Best-Practice-Ansätze untersucht und konsultiert. Der wissenschaftliche Arbeitsprozess umfasst verschiedene vorbereitende empirische Studien sowie eine systematische internationale Expertenkonsultation, um zu entscheiden, welche ICF-Kategorien in die umfassenden und kurzen ICF-Kernsätze aufgenommen werden sollen.
INKLUSION UND KOMPETENZERWERB IN AUßERSCHULISCHEN SETTINGS
Innerhalb der Felderkundung wurde ein bestehendes Praxisbeispiel konzeptionell analysiert und angepasst, welches unter anderem als Freizeit-Maßnahme in der Jugendarbeit verortet ist: eine inklusive Kochfreizeit. Ergänzend wurden weitere Erkenntnisse in interkulturellen und anderen inklusiven Kochworkshops mit Geflohenen und Menschen mit Behinderungen gesammelt. Die Analysen wurden publiziert (Kolbe 2019a, 2019b) und unter Überprüfung der außerschulischen Praxistauglichkeit des Lehr-Lern-Ansatzes „Lernen durch Lehren“ von Martin diskutiert (Martin 2018). Diese Maßnahmen werden weiterhin betreut, erweitert und umgesetzt.
FORSCHUNGSERGEBNISSE
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