DIE "PERFEKTE" INKLUSIVE SCHULE AUS PERSPEKTIVE DER SCHÜLER*INNEN - EINE EMPIRISCH QUALITATIVE STUDIE
TRANSFERPROJEKT
Projektverantwortliche
Prof. Dr. Waltraud Schreiber
Lehrstuhl für Theorie und Didaktik der Geschichte
Projektmitarbeiter*innen:
Dr. Agnes Pfrang
Susanne Sachenbacher
Robert Trautmannsberger
Dr. Regina Weißmann
Dr. Stefanie Zabold
Projektlaufzeit: 2018-2020
mail_outline Kontakt aufnehmenBEGRÜNDUNG DES VORHABENS
Die subjektiven Wünsche und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler zu kennen ist unerlässlich, um Schule gelingen zu lassen (Nölle 1995). Dabei ist die Begründung für den Zusammen-hang zwischen der Perspektive der Schülerinnen und Schüler und der Qualität von Schule und Unterricht eine dreifache: 1) Schülerinnen und Schüler sind die direkten Adressaten von Schule und Unterricht. 2) Schülerinnen und Schüler bringen sich als am Unterricht beteiligte durch die subjektive Wahrnehmung, ihre Persönlichkeit und Weltanschauung ein – so konstituieren sie im Schulleben einen Kontext, der pädagogisches Handeln erst ermöglicht. 3) Schülerinnen und Schüler sind Mitgestalter schulischer Prozesse – sie gestalten pädagogische Kontexte aktiv mit. Folglich kann die Qualität in schulischen Angelegenheiten nicht zustande kommen, wenn die Perspektive der Schülerinnen und Schüler nicht beachtet und ihre Ansichten nicht als potentiell gleichwertig betrachtet werden. Insbesondere im Kontext inklusiver Schulentwicklung erscheint es uns gewinnbringend, die Sichtweisen der Schülerinnen und Schüler auf wesentliche Bereiche von Schule und Unterricht zu erheben und zur Diskussion zu stellen.
FORSCHUNGSSTAND UND FORSCHUNGSDESIDERAT
Insgesamt besteht der Konsens in der empirischen Forschung, dass keine Veranlassung besteht, den Aussagen von Schülerinnen und Schülern einen geringeren Aussagewert beizumessen als Beobachterdaten (2002). Vielmehr wird anerkannt, dass es von Bedeutung ist, die Perspektive der Hauptakteure von Schule und Unterricht empirisch zu erfassen, um einen Beitrag zu deren Weiterentwicklung zu leisten. Der Forschungsstand zu Perspektiven der Schülerinnen und Schü-ler auf Schule und Unterricht erweist sich als komplex und differenziert. Insbesondere lassen sich bei einer Durchsicht quantitativer und qualitativer Studien zur Schülerperspektive folgende Themenkomplexe ausmachen:
- (Fach-) Unterricht (z.B. Ditton 2002, Baumert et al. 2004)
- Unterrichtsqualität (z.B. Grewe et al. 2007, Klieme & Rakoczy 2003)
- Lehrerverhalten (z.B. Hofer 1981, König 2008)
- Schülerurteile über die Schule (z.B. Czerwenka et al 1990)
- Soziales Schulklima (z.B. Holtappels 2003)
- Merkmale einer guten Lehrkraft (z.B. König 2007)
- Rekonstruktion der Schule (z.B. Petillon 1987)
- Positive Peer-Kultur (z.B. Ott 2015)
- Raumwahrnehmung, -gestaltung, -ausstattung und -nutzung in Schulen (z.B. Gislason 2011, Rittelmeyer 2007)
Auffällig an bisherigen Untersuchungen ist, dass sie sich überwiegend auf die Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler bzgl. der aktuellen Situation beziehen. Vorschläge zu einer Verbesse-rung von Schule und Unterricht werden meist anhand der Ergebnisse aus Perspektive von Erwachsenen angebracht. Auch beziehen sich die meisten Studien auf einzelne Aspekte von Schule und Unterricht und nicht umfassend auf das Untersuchungsfeld Schule. Daher erscheint es uns gewinnbringend, die einzelnen Facetten von Schule und Unterricht in den Fokus der Untersuchung zu stellen und die Schülerinnen und Schüler zu fragen, wie aus ihrer Sicht eine Verbesserung derselben aussehen kann. Aus diesem Grund gehen wir folgenden Fragestellungen nach: 1) Welche schulischen Rahmenbedingungen kennzeichnen eine `perfekte` inklusive Schule aus Perspektive der Schülerinnen und Schüler? 2) Welche Merkmale kennzeichnen den Unterricht in einer `perfekten` inklusiven Schule aus Perspektive der Schülerinnen und Schüler? 3) Wie gestaltet sich das Schulleben in einer `perfekten` inklusiven Schule aus Perspektive der Schülerinnen und Schüler? Durch eine Beantwortung dieser Fragen wird das Anliegen verfolgt zu eruieren, in welchen Kontexten von Schule ihre Hauptakteure selbst einen Weiterentwicklungsbedarf sehen und welche konkreten Möglichkeiten der Realisierung sie entwickeln. So wird es möglich, die Perspektive der Schülerinnen und Schüler in Diskussionen über Schulentwicklung einfließen zu lassen. Weiterhin wird das Anliegen verfolgt, aus den Ergebnissen Implikationen für thematische Schwerpunktsetzungen von Lehrerfortbildungen abzuleiten. Damit soll ein Beitrag zur Weiterentwicklung von Lehrerfortbildungen geleistet werden.
DESIGN DER STUDIE
Im Kontext der Untersuchung wird davon ausgegangen, dass sich die Fragestellungen mit dem Paradigma der qualitativen Sozialforschung beantworten lassen, da ein quantitativer Ansatz, dem es insbesondere um die Überprüfung von Hypothesen geht, dem Anspruch, die individuellen Perspektiven der Schülerinnen und Schüler zu erfassen, kaum gerecht werden kann. Qualitative Forschung konzentriert sich auf die Sichtweisen der Subjekte und den Sinn, den diese mit Erfah-rungen und Ereignissen verbinden, und die Bedeutung von Gegenständen, Handlungen und Er-eignissen steht hinter einem großen Teil der qualitativen Forschung (Flick 2007).
Erhebungsraum- und Stichprobe
Unsere Untersuchungsgruppe umfasst Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Schularten im Alter von 9 bis 18 Jahren, die sich wie folgt zusammensetzt:
- 16 Schülerinnen und Schüler aus 8 Mittelschulen (2 ländlich, 6 städtisch, 3 Jungs, 13 Mädchen, Jahrgangsstufe 7-10M, 9 Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund)
- 17 Schülerinnen und Schüler aus 8 Grundschulen (1 ländlich, 7 städtisch, 4 Jungs, 13 Mädchen, Jahrgangsstufe 3-4, 4 Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund)
- 4 Schülerinnen aus 2 Realschulen (alle städtisch, 4 Mädchen, Jahrgangsstufe 5-10, 3 Schülerinnen mit Migrationshintergrund)
- 2 Schülerinnen aus 1 Gymnasium (städtisch, 2 Mädchen, Jahrgangsstufe Q 11, 1 Schülerin mit Migrationshintergrund)
Die Schulen sind schriftlich angefragt worden, 19 Schulen haben ihr Teilnahme zugesagt. Die Erhebungen haben an der Schule stattgefunden. Nur die Grundschülerinnen und -schüler sind für die Interviews an die Universität gekommen. Mit einem Schreiben wurden die Eltern infor-miert und um die Einwilligung der Beteiligung ihres Kindes gebeten. Es haben alle Schülerinnen und Schüler teilgenommen, deren Eltern zugestimmt haben.
Erhebungs- und Auswertungsverfahren
Für unsere Untersuchung erscheint uns das fokussierte Interview als geeignet, da „es sich [dabei, A. d. Verf.] um eine Interviewtechnik [handelt], die dazu dienen soll, bestimmte Aspekte einer gemeinsamen Erfahrung der Befragten möglichst umfassend, thematisch konzentriert, detailliert und einschließlich der emotionalen Komponente auszuleuchten“ (Friebertshäuser 1997, S. 378). Nach Lamnek (1995, S. 79 f.) ist diese Form des Interviews trotz ihrer grundsätzlichen qualitati-ven und interpretativen Orientierung der quantitativen Methodologie recht nahe und beinhaltet bei partieller Standardisierung auch eine Vergleichbarkeit und darauf aufbauend eine Quantifizierbarkeit von Aussagen. Gleichzeitig ist es uns ein Anliegen, dass die Schülerinnen und Schü-ler ihre Ansichten über eine „perfekte Schule“ frei erzählen. Eine Möglichkeit der Realisierung bietet, nach Friebertshäuser (1997), hierfür das episodische Interview, da dieser Zugang das Interesse an Erzählungen mit dem Interesse an Wissensbeständen zu einem Gegenstandsbereich verknüpft. Unserem Erkenntnisinteresse entspricht eine Kombination aus episodischen und fokussierten Interview, das dies sowohl das freie Erzählen als auch das fragegeleitete Gespräch über Ansichten und Meinungen der Schülerinnen und Schüler über Bedingungen und Voraussetzungen einer „perfekten Schule“ zulässt. Die Interviews werden in Anlehnung an Kuckartz (2016) mit der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. In diesem Kontext wird eine inhaltlich-strukturierende Vorgehensweise fokussiert, um am Material ausgewählte inhaltliche Aspekte systematisch zu beschreiben. Diese Aspekte bilden zugleich die Struktur des Kategoriensystems, wobei die verschiedenen Themen als Kategorien des Kategoriensystems expliziert werden. In der ersten Phase wird anhand von Hauptkategorien codiert, die den inhaltlichen Schwerpunkten entsprechen. Anschließend werden die Kategorien induktiv am Material in Form von Subkategorien weiterentwickelt und ausdifferenziert.
LITERATUR
Baumert, J./ Kunter, M./ Brunner, M./ Krauss, S./ Blum, W./ Neubrand, M. (2004): Mathematikunterricht aus Sicht der PISA-Schülerinnen und-Schüler und ihrer Lehrkräfte. In: Prenzel, M./ Baumert, J./ Blum, W./ Lehmann, R./ Leutner, D./ Neubrand, M./ Pekrun, R./ Rolff, H.-G./ Rost, J./ Schiefele, U. (Hrsg.): PISA 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland — Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. Münster: Waxmann, 314–354.
Czerwenka, K./ Nölle, K./ Pause, G./ Schlotthaus, W./ Schmidt, H. J./ Tessloff, J. (1990): Schülerurteile über die Schule. Bericht über eine internationale Untersuchung. Frankfurt a. M: Lang.
Ditton, H. (2002): Lehrkräfte und Unterricht aus Schülersicht. Ergebnisse einer Untersuchung im Fach Mathematik. In: Zeitschrift für Päda-gogik 48 (2002) 2, 262-286.
Fichten, W. (1993): Unterricht aus Schülersicht. Frankfurt a. M: Lang.
Gerstenmaier, J. (1975): Urteile von Schülern über Lehrer: Eine Analyse ausgewählter empirischer Untersuchungen. Weinheim: Beltz.
Gislason, N. (2011): Building Innovation: History, cases, and perspectives on school design. Big Tancook Island (Canada).
Grewe M./ Strietholt R./ Schwippert K. (2007): Unterrichtsqualität aus Schülersicht. In: Möller K./ Hanke P./ Beinbrech C./ Hein A.K./ Kleickmann T./ Schages R. (Hrsg.): Qualität von Grundschulunterricht. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Hofer, M. (1981): Lehrerverhalten aus der Sicht des Schülers. In: Pädagogische Welt. 35. Jg. H.1., 49–56.
Holtappels, H.-G. (2003): Soziales Schulklima aus Schülersicht — Wohlbefinden im sozialen Kontext der Schule. In: Merkens, H./ Zinnecker, J. (Hrsg.): Jahrbuch Jugendforschung. Opladen: Leske + Budrich, 173–196.
Klieme, E./ Rakoczy, K. (2003): Unterrichtsqualitat aus Schülerperspektive: Kulturspezifische Profile, regionale Unterschiede und Zusam-menhänge mit Effekten von Unterricht. In: Baumert, J./ Artelt, C./ Klieme, E./ Neubrand, M./
Prenzel, M./ Schiefele, U./ Schneider, W./ Tillmann, K.-J./ Weiß, M. (Hrsg.): PISA 2000 — Ein differenzierter Blick auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Leske + Budrich, 333–359.
König, J. (2007): Welche Merkmale sollte eine „gute“ Lehrkraft haben? Gruppen-diskussionen mit Schülerinnen und Schülern der 10. Jahr-gangsstufe. Humboldt-Universität zu Berlin, verfügbar über: http://edoc.hu-berlin.de.
König, J. (2008): Pädagogisches Engagement und Durchsetzungsvermögen — Die Lehrkraft im Urteil von Jugendlichen unterschiedlicher Schulformen. In: Ittel A./ Stecher L./ Merkens H./ Zinnecker J. (Hrsg.): Jahrbuch Jugendforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Kuckartz, U. (2016): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim: Beltz Juventa.
Petillon, H. (1987): Der Schüler. Rekonstruktion der Schule aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen. Darmstadt: Wissenschaftli-che Buchgesellschaft.
Ott, A. (2015): Positive Peer-Kultur aus Schülersicht. Herausforderungen (sonder-) pädagogischer Praxis. Wiesbaden: Springer VS.
Rittelmeyer, Ch. (2007): Von brutalen und freundlichen Häusern. Wie das Schulgebäude das Lernen beeinflusst. In: Grundschule, H. 10, 9-12.
Saldern, M. v. (1991): Die Lernumwelt aus der Sicht von Lehrern und Schülern. Psychologie in Erziehung und Unterricht 38, 190–198.