TRANSFERPROJEKT
Projektverantwortliche
Prof. Dr. Joachim Thomas,
Professur für Psychologische Diagnostik und Interventionspsychologie
Prof. Dr. Ulrich Bartosch,
Professur für Pädagogik, Fakultät für Soziale Arbeit
Projektmitarbeiterin
Dr. Regina Weißmann
Projektlaufzeit: 2019-2020
Verknüpfung zum Teilprojekt und Zielsetzung des Transferprojekts
Das Teilprojekt ‚Inklusion in der Berufswahlentscheidung‘ widmete sich von Beginn an der Förderung von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung Jugendlicher und junger Erwachsener im Rahmen ihrer Berufswahlentscheidung. Ziel war es, jungen Menschen zu ermöglichen, sich selbst als Expert*innen über ihre eigenen Interessen und Neigungen zu begreifen und ihnen hierfür ein entsprechendes Tool zur Verfügung zu stellen. In einem ersten Schritt sind hieraus drei Selbsteinschätzungsfragebögen entstanden, die sich der Erfassung beruflicher Interessen, beruflicher Wertvorstellungen und berufsrelevanter Persönlichkeitsaspekte widmen und insbesondere auf die Bedürfnisse von Menschen mit kognitivem und sprachlichem Förderbedarf sowie Personen am Beginn der Berufsorientierung ausgerichtet sind. Die Fragebögen sollten dabei nicht als isolierte, für sich alleine stehende Instrumente behandelt werden, sondern müssen in einen institutionellen Beratungskontext eingebunden sein. Berufsberatung ist im allgemeinen als ein Prozess zu verstehen „der dem einzelnen dazu verhilft, ein in sich stimmiges und angemessenes Bild seiner Rolle in der Arbeitswelt zu entwickeln, dieses Konzept zu prüfen und in die Realität umzusetzen, zur eigenen Zufriedenheit und zum Nutzen der Gesellschaft“ (Ertelt & Schulz, 2015, S. 4). Im Vordergrund des Transferprojekts steht die Frage, wie Beratungssettings gestaltet werden müssen, damit sie die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung der Ratsuchenden im Prozess der Berufswahlentscheidung fördern. Dies soll im folgenden Beitrag exemplarisch anhand der Implementation des nonverbalen Interessenfragebogens (NVBIT) dargestellt werden. Das Verfahren wurde hierbei in denBeratungskontext des Berufsbildungswerkes (BBW) Rummelsberg und von vier Mittelschulen (Klassenstufe 7 und 8) integriert, woraus im Wesentlichen drei Studien entstanden sind.
Studie 1
Implementation des NVBIT in den Beratungskontext im Berufsbildungswerk – Wirksamkeit von schriftlichem Feedback und Beratungsgespräch
An der ersten Implementierungsstudie des NVBIT im BBW Rummelsberg (vgl. Weißmann, Thieme, Wagner, Bartosch & Thomas, 2019) nahmen insgesamt N=35 berufliche Rehabilitand*innen im Alter von 15 bis 25 Jahren teil. Die Wirksamkeit zweier unterschiedlicher Feedbackverfahren (Experimentalgruppe 1: schriftliches Feedback und Experimentalgruppe 2: mündliches Feedback im Beratungsgespräch) wurde im Rahmen einer Interventionsstudie zu zwei Messzeitpunkten untersucht. Zum Nachweis der Wirksamkeit wurden die leistungsbezogene Selbstwirksamkeit und die Erfolgsmotivation der Teilnehmer*innen in einer Prä- und Posttestung erhoben. Es wurden zwei Untersuchungshypothesen aufgestellt, die eine Steigerung der einbezogenen berufsrelevanten Konstrukte im Vergleich von Messzeitpunkt 1 zu Messzeitpunkt 2 vermuten.
Die Ergebnisse der statistischen Auswertung dieser Hypothesen zeigen unter anderem, dass die Selbsteinschätzung der leistungsbezogenen Selbstwirksamkeit in Experimentalgruppe 1 statistisch signifikant im Vergleich der Messzeitpunkte angestiegen ist, während sie in Experimentalgruppe 2 nahezu unverändert geblieben ist. Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass die Anwendung des Interessenfragebogens mit der Rückmeldung durch ein schriftliches Ergebnisfeedback einen positiven Einfluss auf die leistungsbezogene Selbstwirksamkeit auswirkt während bei der Rückmeldung im Beratungsgespräch kein Effekt nachgewiesen werden konnte.
Die Ergebnisse entsprechen der Grundannahme der Relevanz von Selbstbestimmung und Selbstverantwortung im Prozess der Berufswahlentscheidung, die bereits im vorherigen Teilprojekt zum Tragen gekommen ist. Das schriftliche Feedback hat eine eigenständige Auseinandersetzung mit den Ergebnissen bewirkt, während die Teilnehmer*innen bei Ergebnisvermittlung im Beratungsgespräch eine stark rezeptive, informationsaufnehmende Rolle eingenommen haben. Wir haben aus diesen Ergebnissen für unsere weiteren Implementationsversuche abgeleitet, dass neben dem Einsatz eines direkten Feedbacks auch eine Neukonzeption des Beratungssettings notwendig ist. Klient*innen müssen sich als „gestaltend, selbstwirksam und handlungsfähig erleben und ihre Handlungs- und Entscheidungsmacht sowie ihre Eigenkraft wahrnehmen (Roessler, 2013, S. 153). Ein ‚exploratives Beratungssetting‘ zeichnet sich in seinen Grundzügen dadurch aus, dass junge Menschen dazu befähigt werden, Expert*innen ihrer eigenen beruflichen Interessen und Ziele zu werden. Die Rolle der Beratenden wandelt sich dementsprechend von Expert*innen zu Lernbegleiter*innen, die in einem non-direktiven Gesprächssetting den Teilnehmer*innen eine aktive Gestaltung ihrer Berufswahlentscheidung ermöglichen (vgl. Weißmann, Thomas & Bartosch, 2018).
Studie 2
Implementation des NVBIT in den Beratungskontext im Berufsbildungswerk – Wirksamkeit zweier Beratungssettings: klassisch vs. explorativ
Um den Ergebnissen der ersten Untersuchung Rechnung zu tragen, haben wir uns der Konzeption eines explorativen Beratungsleitfadens gewidmet, der sich an den oben beschriebenen Implikationen orientierte. Insgesamt N=40 Jugendliche und junge Erwachsene aus der berufsvorbereitenden Maßnahme des BBW Rummelsberg haben an der Studie teilgenommen. Die Rahmenbedingungen wurden bezüglich des Untersuchungsdesigns vergleichbar zu Studie 1 gehalten. Es wurden dieselben berufsrelevanten Persönlichkeitsaspekte zu zwei Messzeitpunkten (Prä- und Posttestung) zur Überprüfung der Wirksamkeit erfasst. Alle Teilnehmer*innen führten den NVBIT am Computer durch und erhielten ein automatisches Ergebnisfeedback. Im Gegensatz zu Studie 1 wurden in der zweiten Implementationsstudie jedoch zwei unterschiedliche Beratungssettings einander gegenübergestellt. Die Berater*innen aus Experimentalgruppe 1 führten Beratungsgespräche mit Hilfe des von uns konzipierten Leitfadens zur explorativen Beratung. Die Berater*innen aus Experimentalgruppe 2 arbeiteten mit ihrem bisher gängigen Beratungskonzept, in dem die Klient*innen eine eher rezeptive, passive Rolle einnehmen.
Als Untersuchungshypothese wurde aufgestellt, dass berufsrelevante Persönlichkeitsaspekte durch die explorative Variante gesteigert werden können, während in Experimentalgruppe 2 (klassisches Beratungskonzept) kein Zuwachs von leistungsbezogener Selbstwirksamkeit und Erfolgsmotivation festzustellen ist. Die Ergebnisauswertung zeigte im Wesentlichen, dass sowohl die leistungsbezogene Selbstwirksamkeit als auch die Erfolgsmotivation bei Teilnehmer*innen beider Experimentalgruppen angestiegen ist, die Jugendlichen, die ihre Ergebnisse in einem explorativen Beratungsgespräch erarbeitet haben jedoch einen stärkeren Zuwachs erlebten.
Studie 3
Implementation des NVBIT im Kontext der Berufsorientierung in der Sekundarstufe I
Bezüglich der Rückmeldung diagnostischer Testergebnisse ist in den Richtlinien für die Testanwendung (ICT, 2001) festgehalten, dass Klient*innen sowohl schriftlich als auch mündlich über ihre Ergebnisse informiert werden müssen. Die Resultate aus den beiden vorhergehenden Untersuchungen im BBW haben ebenfalls gezeigt, dass sowohl ein schriftliches
Feedback als auch ein exploratives Beratungskonzept, in dessen Rahmen die Ergebnisse aufgearbeitet werden, zielführend für die berufliche Beratung mit dem NVBIT sind.
Ziel der dritten Studie (Weißmann, Thomas & Bartosch, 2019) war es, die Implementation des NVBIT und des zugehörigen Beratungskonzepts in vier bayerischen Schulen (ein sonderpädagogisches Förderzentrum, zwei Mittelschulen und eine Mittelschule mit inklusivem Schulprofil). Insgesamt nahmen N=59 Schüler*innen an der Studie teil, die entweder die 7. oder die 8. Jahrgangsstudie besuchten. Die Wirksamkeit der Implementation wurde wiederum durch die Erhebung berufsrelevanter Persönlichkeitsmerkmale (leistungsbezogene und soziale Selbstwirksamkeit, Erfolgsmotivation und Desire for Control) zu zwei Messzeitpunkten (Prä- und Posttestung) erhoben. Da die Schulen keine (Warte)-Kontrollgruppe akzeptiert haben, wurden im Vorfeld bei dieser Studie keine Vergleichsgruppen definiert. Die Untersuchungshypothesen wurden so formuliert, dass wiederum ein Anstieg der einbezogenen berufsrelevanten Konstrukte im Vergleich von Messzeitpunkt 1 zu Messzeitpunkt 2 zu erwarten ist.
>Für die Ergebnisauswertung zeigte sich, dass bei der Betrachtung der Gesamtstichprobe keine signifikanten Veränderungen im Vergleich von Messzeitpunkt 1 und 2 zu ermitteln waren. Hingegen zeigt eine geschlechtsdifferenzierte Betrachtung ein anderes Bild:
Während bei weiblichen Teilnehmer*innen nur ein geringer Anstieg der berufsrelevanten Persönlichkeitsfaktoren zu erkennen war, zeigte sich, dass männliche Jugendliche besonders im Hinblick auf positive Veränderungen ihres Desire for Control von der Anwendung des NVBIT, dem Feedback und dem Beratungsgespräch profitiert haben. Sie hatten also nach der Durchführung ein signifikant höheres Bedürfnis, selbst die Kontrolle über ihre Situation und ihre Entscheidungen zu übernehmen. Selbiges zeigt sich bei Betrachtung der Ergebnisse zur Erfolgsmotivation.
Insgesamt ist festzuhalten, dass die Implementation in Schulen andere Ergebnisse zeigt als die Studien im BBW. Gründe hierfür können einerseits in der Unterschiedlichkeit der Zielgruppe gesucht werden. Jedoch kann auch die Unterschiedlichkeit der beteiligten Professionen (Bildungsbegleiter und Lehrkräfte) ausschlaggebend sein.
Dass das Programm eine höhere Wirksamkeit bei männlichen Jugendlichen zeigt, muss nicht zwangsläufig seinen Einsatzbereich schmälern, da insbesondere Mittelschulen häufiger von Jungen als von Mädchen besucht werden (ISB, 2017). Dies gilt auch für die berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen der BBW (BAGBBW, 2010). Egal welchen Einsatzbereich man betrachtet bleibt es für Folgeuntersuchungen wichtig, eine noch tiefergehende und länger andauernde Begleitung von jungen Menschen im Kontext ihrer Berufswahlentscheidung zu ermöglichen.
Danksagung
Die Kooperationen im Teilprojekt ‚Inklusion in der Berufswahlentscheidung‘ sowie im zugehörigen Transferprojekt haben dazu geführt, dass sowohl die beteiligten schulischen als auch außerschulischen Einrichtungen ein hohes Interesse daran haben, die entwickelten Instrumente über die Laufzeit des Projekts hinaus zu nutzen und gleichermaßen weiterhin als Kooperationspartner*innen für wissenschaftliche Studien zur Verfügung zu stehen.
>Unser Dank gilt allen beteiligten Institutionen, den Fachkräften und insbesondere den beteiligten Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Für den besonders intensiven konzeptionellen Austausch möchten wir uns gerne bei Matthias Wagner und Iris Thieme (BBW Rummelsberg), Franz Schmid (Regens-Wagner-Berufsschule Schrobenhausen) und Christine Voggenhuber (Projekt ‚Jugendcoaching‘ Niederösterreich) bedanken.
Entstandene Publikationen
Weißmann, R., Thomas, J. & Bartosch U. (2018). Entgrenzung der Möglichkeiten in der Berufswahl. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung fördern. Teilprojekt Inklusion in der Berufswahlentscheidung. In U. Bartosch, W. Schreiber & J. Thomas (Hrsg.)Inklusives Leben und Lernen in der Schule. Berichte aus dem Forschungsverbund zu Inklusion an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (S. 321-348) Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Weißmann, R., Bartosch, U. & Thomas, J. (2019). Selbstbestimmung in der Berufswahlentscheidung fördern. In F. Gramlinger, C. Iller, A. Ostendorf, K. Schmid & G. Tafner (Hrsg.), Bildung = Berufsbildung?! (S. 311-323) Bielefeld: wbv.
Weißmann, R., Thieme I., Wagner, M., Bartosch, U. & Thomas J. (2019), Selbstbestimmung in der. Berufswahlentscheidung fördern – Erprobung innovativer Testverfahren und Beratungsansätze im Berufsbildungswerk. Zeitschrift für berufliche Rehabilitation. S. 275-285
Literaturverzeichnis
BAGBBW (2010): Integration inklusive. Integration junger Menschen mit Behinderung, Teilhabe am Arbeitsleben. Online unter: https://www.bagbbw.de/w/files/pdfs/11-08-12-abschlussbericht.pdf (31.08.2018)
Ertelt, Bernd-Joachim/Schulz, William (2015): Handbuch Beratungskompetenz. Wiesbaden: Springer.
ISB (2017): Übertritte von der Grundschule in die Sekundarstufe 1. Online unter: https://www.isb.bayern.de/schulartuebergreifendes/qualitaetssicherung-schulentwicklung/bildungsberichterstattung/uebertritte/geschlechter/ (31.08.2018).
ITC (2001): Internationale Richtlinien für die Testanwendung. Version 2000. Deutsche Fassung,
Roessler, Marianne (2013): Beratung im Zwangskontext – Wertschätzung und Transparenz einsetzen, um Klientinnen und Klienten für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Online unter: http://www.netzwerk-ost.at/publikationen/pdf/publikationen_Beratung%20mit%20%20KlientInnen%20im%20Zwangskontext_Marianne%20Roessler.pdf (31.08.2018)