WISSEN KÖNNEN. DAS VERHÄLTNIS VON WISSEN UND KOMPETENZEN MIT PERSPEKTIVEN AUF INKLUSIVEN GESCHICHTSUNTERRICHT.
Projektverantwortliche
Prof. Dr. Waltraud Schreiber & Michael Werner
Promotionsprojekt im Rahmen des Teilforschungsprojekts
„Historisches Wissen und historische Kompetenzen. Teilprojekt der Theorie und Didaktik der Geschichte“
Verantwortlicher: Michael Werner
Projektlaufzeit: 2016-2020
PROBLEMSTELLUNG UND FORSCHUNGSSTAND
Die traditionell umstrittene Inhaltsauswahl im Fach Geschichte wird durch Anforderungen an kompetenzorientierten Geschichtsunterricht und die Herausforderungen schulischer Inklusion noch komplexer. Einerseits ist im Hinblick auf zunehmende und umfassendere Heterogenität der Lernenden die inhaltliche Themenauswahl in inklusiven Lehr-Lern-Settings zu prüfen. Denn diese erfordern die Berücksichtigung nicht nur unterschiedlicher Leistungsniveaus und Wahrnehmungsmöglichkeiten, sondern auch in ihrer Pluralität zunehmender Perspektiven, Orientierungsangebote und Zugänge. Andererseits stellt sich weiterhin die Frage nach der Gewichtung von Wissensvermittlung gegenüber fachlicher Kompetenzförderung. Dies ist sowohl Ausdruck anhaltender Auseinandersetzungen um materiale und formale Lernziele als auch von Überlegungen zu Differenzierungsmöglichkeiten im Geschichtsunterricht. So impliziert das konstruktivistisch-narrativistische Paradigma hinter der Kompetenzorientierung individuelle historische Vorstellungen und Wissensbestände, die von historischen Kompetenzen, kulturellen Perspektiven, persönlichen Interessen und anderen Faktoren abhängen. Kompetenzorientierte Geschichtsunterricht lehnt deshalb die Vermittlung verbindlichen historischen Wissens zugunsten der Entwicklung eines kritischen und reflektierten Geschichtsbewusstseins ab. Daher ist neben der Auswahl von Inhalten auch deren Wechselwirkung mit individuellen Dispositionen beim Wissenserwerb und der reliablen Erfassung und gerechten Beurteilung von Wissensstrukturen zu berücksichtigen. Dabei sollen fachliche Ansprüche an Denk- und Arbeitsweisen ebenso wenig aufgeben werden wie der Anspruch von Inklusion, dass gemeinsame Anknüpfungspunkte die Teilhabe aller im Unterricht und an der Geschichtskultur ermöglichen müssen. Die Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht sowie die Diagnose von Lernergebnissen erfordert somit umfangreiche Erkenntnisse über Zusammenhänge unter anderem von Wissen und Kompetenzen im Fach Geschichte.
Bisherige Versuche, Zusammenhänge zwischen fachlichen Kompetenzen und Wissensbeständen zu klären, beruhen auf theoretischen Annahmen bzw. auf in Studien bei Lernenden an Regelschulen. Dabei wurden Einsichten zur Varianz von Geschichtsbewusstsein (aufgrund unterschiedlicher Interessen, kognitiver Fähigkeiten, Wahrnehmungsmöglichkeiten und Wissensbestände) gewonnen. Für inklusiven Geschichtsunterricht wurden daraus die Handlungsempfehlungen abgeleitet, Wahrnehmungsbarrieren zu beseitigen, die Geschichte und Perspektiven marginalisierter Gruppen oder Lebensentwürfe zu thematisieren sowie das Anspruchsniveau der Operationen beim Umgang mit Geschichte individuell anzupassen. Dabei ist jedoch empirisch noch ungeklärt, inwieweit dabei unterstellte Interessen tatsächlich vorfindlich und welche Kompetenzausprägungen oder Wissensstrukturen bei Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen und Förderbedarfen zu erwarten sind. Zudem vernachlässigen die Inhalts- bzw. Thematisierungsvorschläge das kognitive Anforderungsniveau als inklusiv erachteter Themen. Hinsichtlich möglicher Aufgaben mit niedrigem Anspruchsniveau wäre dagegen die Domänenspezifik zu prüfen, um fachliche und inhaltliche Anschlussfähigkeit an das historische Denken anderer Lernender und der Gesellschaft zu sichern. Beides erfordert, die Nutzung und die Veränderung von Wissensstrukturen und Kompetenzausprägungen gleichermaßen und in ihrer Interaktion zu betrachten. Dieser Zusammenhang wird im Dissertationsprojekt zunächst theoretisch strukturiert.
Insbesondere eine solche Bestimmung des Verhältnisses von Wissen und historischen Kompetenzen gilt als Desiderat der Kompetenzdebatte im Fach Geschichte. Diese Lücke ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass beide Konstrukte unterschiedliche empirische und theoretische Entwicklungsstände aufweisen. Während die vorliegenden Prozess- und Strukturmodelle historischer Kompetenzen Überlegungen der Historik und Theorien zu Geschichtsbewusstsein einbeziehen, ist eine fachlich profilierte Theorie historischen Wissens kaum zu erkennen. Zumeist wird fachliches Wissen mit psychologisch-gedächtnistheoretisch begründeten Wissenstypen systematisiert, dabei sind aber Abgrenzungen von curricularen Wissensbegriffen undeutlich. Eine Berücksichtigung fachlicher Erkenntnisprinzipien erfolgt allenfalls implizit. Empirische Erhebungen historischen Wissens orientieren sich als Folge dessen an einem einseitig faktenzentrierten Wissensverständnis und werden als Gradmesser — meist hinter den Erwartungen bleibender — schulischer Vermittlungs- und individueller Lernerfolge interpretiert. Dagegen steht die empirische Erfassung der theoretisch auf hohem und komplexem Niveau fachspezifisch definierten Kompetenzen historischen Denkens noch am Anfang. Aufgrund dieser Asymmetrie empirischer und theoretischer Vorarbeiten, fehlen Grundlagen für eine präzise Bestimmung des Verhältnisses zweier wichtiger Faktoren historischen Denkens. Einsichten in deren Zusammenspiel wären aber fundamental für die Umsetzung kompetenzorientierter Lehrplanvorgaben und die Differenzierung in einem zunehmend heterogenen, inklusiven Unterrichtsumfeld.
FRAGESTELLUNG UND ZIELSETZUNG
Vor diesem Hintergrund werden Möglichkeiten gesucht, heterogenen Lernvoraussetzungen durch differenzierte Förderung und Leistungsbeurteilung zu begegnen, indem Kompetenzen historischen Denkens und historisches Wissen mehrdimensional und in ihren Bezügen betrachtet werden. Damit soll die iso-lierte Feststellung unterschiedlicher Ausgangslagen und Lernfortschritte ergänzt werden um die Syste-matisierung der Zusammenhänge von Wissen und Kompetenz unter idealtypischer Berücksichtigung extremer Ausprägungen. Dazu fragt die Arbeit danach,
- wie sich Menge und Qualität historischen Wissens fachlich strukturieren lässt.
- inwieweit Wissensstrukturen theoretisch durch historische Kompetenzausprägungen begründet werden können.
- welche Differenzierungsmöglichkeiten einerseits und Grenzen gemeinsamen historischen Lernens andererseits sich aus einer dimensionalen, kompetenzbezogenen Wissenstheorie für inklusiven Geschichtsunterricht ergeben.
Ziel ist ein fachspezifisches, historisches Wissensmodell, das einerseits Ansatzpunkte für die Beschrei-bung und differenzierte Erfassung historischen Wissens bieten soll, die über die Feststellung inhaltlicher Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Aussagen hinausgeht. Andererseits sollen Hypothesen zu Dimensionen und Interaktionen von Wissen insbesondere mit Kompetenzen historischen Denkens formuliert werden.
VORGEHEN UND VORARBEITEN
Die angestrebte Synthese von Theorien zu Kompetenzen historischen Denkens und Wissen im Fach Geschichte folgt der Annahme, dass die Unterstützung historischen Lernens in hochgradig und vielfach heterogenen Gruppen von der mehrdimensionalen und graduierbaren Modellierung beteiligter Kognitionen profitiert. Bislang allenfalls funktional unterschiedenes Wissen in Geschichte soll dazu weiter differenziert und hinsichtlich der Verortung in Modellen historischer Kompetenzen reflektiert werden. Auf Grundlage eines Reviews geschichtsdidaktischer Literatur seit der Kompetenzdebatte ab 2003, das Merkmals- und Funktionszuschreibungen sowie Systematisierungsvorschläge für historisches Wissen fokussiert, werden Wissenskonzepte und deren Verhältnis zu Psychologie und Geschichtswissenschaft als Bezugsdisziplinen der Geschichtsdidaktik expliziert. Darauf aufbauend wird eine Arbeitsdefinition historischen Wissens entwickelt, die sowohl psychologische Funktionszusammenhänge als auch erkenntnislogische und fachliche Ansprüche an Wissen berücksichtigt.
Unter Nutzung dieser Definition werden Arten historischen Wissens hinsichtlich der Funktion und zeitlichen Positionierung im Verlauf historischer Denkprozesse unterschieden und in Bezug auf Merkmalsausprägungen z.B. der Repräsentationsweisen, Transferfähigkeit oder Geltungsansprüche und -Sicherung dimensioniert. Hinsichtlich der Konzeption fachlicher Denkprozesse und daran beteiligter Kompetenzen bezieht sich die Arbeit vorwiegend auf das Kompetenzstrukturmodell der FUER-Gruppe. Denn dieses Kompetenzmodell ist diskursiv in der Disziplin anerkannt und pragmatisch durch curriculare Berücksichtigung bewährt. Darüber hinaus zeichnet es sich insbesondere durch Vorschläge zur Graduierung historischer Kompetenzniveaus gegenüber weiteren Modellen aus. Zudem stützt sich das Modell auf die bislang prägende Kompetenzdefinition nach Weinert. Als Grundlage eines differenzierenden Modells historischen Wissens fungiert das modulare Wissenskonzept des Karlsruher Ansatzes zur integrierten Wissensforschung. Durch Identifikation der strukturellen und prozesslogischen Überlappungsbereiche des entwickelten Modells historischen Wissens und des Kompetenzstrukturmodells werden Schnittstellen dezidiert fachlich beschriebener Wissensbestände und Kompetenzen erkennbar. In diesen Überschneidungsbereichen erlaubt die Unterscheidung von Wissensphasen und -dimensionen im historischen Denkprozess eine Hypothesenbildung zu Zusammenhängen von Wissensqualitäten und Kompetenzausprägungen. Deren Potential für inklusiven Geschichtsunterricht vor allem im Umgang mit leistungs- und kulturbezogener Heterogenität ist schließlich zu diskutieren.
LITERATUR
Hasberg, Wolfgang; Körber, A. (2003): Geschichtsbewusstsein dynamisch. In: Andreas Körber (Hg.): Geschichte – Leben – Lernen. Bodo von Borries zum 60. Geburtstag. Unter Mitarbeit von Bodo von Borries. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verl. (Forum historisches Lernen), S. 177–200.
Körber, Andreas; Schreiber, Waltraud; Schöner, Alexander (Hg.) (2007): Kompetenzen historischen Denkens. Neuried: ars una.
Kühberger, Christoph (Hg.) (2012): Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundungen zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen. Schwalbach/Ts. (Forum historisches Lernen).
Spinner, Helmut F. (2002): Das modulare Wissenskonzept des Karlsruher Ansatzes der integrierten Wissensforschung – Zur Grundlegung der allgemeinen Wissenstheorie für ‚Wissen aller Arten, in jeder Menge und Güte‘. In: Karsten Weber, Michael Nagenborg und Helmut F. Spinner (Hg.): Wissensarten, Wissensordnungen, Wissensregime. Beiträge zum Karlsruher Ansatz der integrierten Wissensforschung. Opladen: Leske + Budrich, S. 13–46.
Weinert, F.E (2001): Concept of Competence: A Concpetual Clarification. In: Dominique Simone Rychen und Laura Hersh Salganik (Hg.): Defining and Selecting Key Competencies // Definition and selection of competencies–theoretical and conceptual foundations. Kirkland, WA: Hogrefe & Huber, S. 45–65.
Werner, M. & Schreiber, W. (2018): Wissens-Werte Geschichten: zum Wert heterogener Wissensausprägungen für inklusives historisches Lernen. In: Ulrich Bartosch; Waltraud Schreiber und Joachim Thomas (Hg.): Inklusives Leben und Lernen in der Schule: Berichte aus dem Forschungsverbund zu Inklusion an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 153-182.