BILDUNG IN INKLUSIVEN KLASSEN

- DEMOKRATIEBILDUNG UND PARTIZIPATION

Projektverantwortliche

Prof. Dr. Ulrich Bartosch,

Professur für Pädagogik, Fakultät für Soziale Arbeit

Prof. Dr. Joachim Thomas,

Professur für Psychologische Diagnostik und Interventionspsychologie

Christiane Bartosch, M.A.

Professur für Psychologische Diagnostik und Interventionspsychologie

Projektlaufzeit: 2014 – 2018

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  • „Ich finde das gut, dass ihr das macht. Dann dürfen wir vielleicht auch mal was entscheiden und nicht nur die Lehrer.“

    (Kinderkommentar zur Nutzung des Partizipationsmonitors; 2018_07_02)

ENTWICKLUNG EINES INSTRUMENTS ZUR ERFASSUNG VON PARTIZIPATION

INKLUSION UND PARTIZIPATION MÜSSEN ZUSAMMEN GEDACHT UND GELEBT WERDEN

Wir setzen voraus, dass Partizipation eine normative Zielsetzung in allen inklusiven Settings bildet (vgl. Boban/Hinz 2004, S. 41). Bereits die Salamanca Erklärung ist hier eindeutig:

„Inklusion und Beteiligung sind sowohl für die menschliche Würde als auch für den Genuss und die Ausübung von Menschenrechten grundlegend. Innerhalb der Pädagogik wird dies in der Entwicklung von Strategien widergespiegelt, die echte Gleichstellung zu bewirken versuchen. […] Inklusive Schulen stellen günstige Bedingungen für Gleichstellung und echtes Miteinander dar.“ (Die Salamanca Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse 1994, I.6) Sicherlich haben Lehrkräfte begründete Vorstellungen davon, wie sie dieses Miteinander ermöglichen. Wie aber werden die Ideen und das Erleben der Kinder erkannt? Um die Kinder besser als Partner in die Weiterentwicklung von Partizipation einzubeziehen, haben wir nach einer Möglichkeit gesucht, ihre Meinung sichtbar zu machen. So entstand die Idee dafür ein spezifisches Instrument zu entwickeln.

Der Partizipationsmonitor (Pa-Mo) sollte die erlebte und die gewünschte Partizipation von Kindern im schulischen Alltag aus deren Perspektive erfassen. Damit würde ein Gespräch zwischen Lehrkräften und ihren Schülerinnen und Schülern erleichtert und eine Begegnung auf Augenhöhe unterstützt. Beide Seiten befähigen sich, vorurteilsfreier über Partizipation im schulischen Alltag zu sprechen und ihre unterschiedlichen Vorstellungen zu erläutern. Das Selbstvertrauen der Lehrkräfte sollte so bestärkt werden. Sie teilen mit den Kindern Verantwortung und können ihr Vertrauen in die Selbstbildungs- und Selbstverantwortungskompetenz der Kinder stärken. Auf Seiten der Kinder würde Selbstwirksamkeit ausgebaut. Die Kinder könne sich als Experten in eigener Sache erleben. Ihr Vertrauen in die Zusammenarbeit mit der Lehrkraft wird gestärkt (Bartosch/Bartosch/Thomas 2018).

QUALITATIVE UNTERSUCHUNG

Unsere Forschungen nahmen konsequenter Weise die Kinder als Experten in eigener Sache, als Sprecher und Erzähler ihrer eigenen erlebten Wirklichkeit zum Ausgangspunkt. Bereits in einem vorausgehenden Forschungsprojekt „Schlüsselkompetenzen pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen für Bildung in der Demokratie“ (Demokita) (Bartosch et al. 2015) hatten wir Kinder zwischen 4 und 6 Jahren als präzise Beobachter ihrer erlebten Wirklichkeit im Kita-Bereich einbinden können. Die damalig erfassten Rohdaten waren nun neuerlich nützlich. Sie wurden in MAXQDA neu strukturiert und erneut ausgewertet. Mit der Hilfe externer Expertinnen und Experten wurden in mehreren Diskursrunden vier relevante Kategorien identifiziert: Entscheidungsmacht und Regeln als Kategorien, die Strukturqualität bilden und Entscheidungsfindung und Kommunikation als Kategorien, die Prozessqualität ausmachen. Für eine erste qualitative Untersuchung wurden dann entlang dieser vier Kategorien leitfragengestützte Gruppengespräche mit meist 4-5 Kindern in drei inklusiven Grundschulen in Bayern geführt. Alle befragten Kinder besuchten die Jahrgangsstufe 2, es wurden insgesamt 44 Kinder aus neun unterschiedlichen Klassen befragt. Die durchschnittliche Gesprächsdauer lag bei 29 Minuten. Die Inhaltsanalyse erfolgte nach Mayring (2002) entlang den vier Kategorien. Die Gespräche wurden in MAXQDA ausgewertet.

So konnten schließlich drei Fall-Typen für Entscheidungsmacht gebildet werden. Sie treten für den weiteren Verlauf der Untersuchung in den Mittelpunkt, da sie zur Strukturierung von Fallbeispielen geeignet sind. Häufig wurde die eindeutige Entscheidungsmacht der Lehrkräfte in schulischen Situationen geschildert: wir fanden 79 Beispiele, in denen die Lehrerinnen und Lehrer über die alleinige Entscheidungsmacht in allen oder nahezu allen Bereichen im schulischen Alltag verfügen.

  • Interviewerin000: Und gibt es jetzt irgendetwas, wo ihr GAR NICHT entscheiden dürft? Kind064: Welche Hausaufgaben wir, wir die Woche aufhaben. Kind067: Ja. Kind063: Oder ob/ Welches Thema/ Also, welches Thema wir in der Schule machen.

    (Kinder Schule036 Klasse039: 31 - 34)

Die Entscheidungsmacht ist aber auch in vielen Fällen zwischen der Lehrkraft und den Kindern verteilt. So beschrieben Schülerinnen und Schüler ihr partiell eigenen Handlungsspielräume als exakt begrenzt und mit wenig eigenen Gestaltungsmöglichkeiten.

  • Interviewerin000: Mhm (bejahend). (4) Und jetzt möchte ich gerne wissen, wo sagst DU, wo es lang geht und nur du in der Schule. Kind140: Beim Wochenplan, da kann man sagen, WAS ich jetzt mache oder WIE ich es jetzt mache oder ob ich jetzt geteilt oder Mal rechne. Also, das kann ich selber entscheiden. Kind138: Oder ob ich Deutsch mache. Kind140: Mhm (bejahend). Kind139: Aber man kann das nicht alles entscheiden, weil, erst muss man Pflicht machen und dann dafür Zusatz.

    (Kinder Schule104 Klasse117: 126 - 130)

Die alleinige Entscheidungsmacht der Kinder wurde mit den Fragen „Sollen Kinder mitbestimmen dürfen?“ und „Wann sollen Kinder mitbestimmen dürfen?“ angesprochen. Kinder benennen ihre Entscheidungsmacht und finden begründete Argumente für Partizipation von Kindern im schulischen Alltag.

  • Interviewerin000: Und WARUM ist es wichtig, dass Kinder mitbestimmen? Kind041: Weil Erwachsene nicht wissen, wie es den Kindern geht. (10) [2].

    (Kinder Schule036 Klasse038: 370 - 371)

Es war nun nach Situationen zu suchen, die unter den Kindern allgemein bekannt sind und die für die Wahl der unterschiedlichen Entscheidungstypen geeignet sind.

ENTWICKLUNG EINES BEFRAGUNGSINSTRUMENTS FÜR DIE QUANTITATIVE UNTERSUCHUNG

Die Durchsicht der codierten Texte folgte den Fragen: Welche Situationen werden konkret von Kindern in den Gesprächen beschrieben? In welchen Situationen zeigen sich partizipative oder direktive Elemente? Wo erleben Kinder – laut ihren eigenen Beschreibungen – Situationen, in denen sie alleine, zusammen mit der Lehrkraft oder nur die Lehrkraft entscheiden? Welches sind wichtige Momente, in denen diese Fragen häufig auftauchen? (vgl. dazu Trautmann 2010) Die Erzählstruktur der Kinder wird von erlebten und beobachteten Situationen geleitet. Darauf aufbauend wurde zur Erzählung von konkreten erlebten und beobachteten Situationen immer wieder ermuntert. Aus dem Material konnten 11 Themenfelder gebildet werden, die für Partizipation und Demokratie in der Schule grundsätzlich relevant sind.

  1. Entscheidungen über gemeinsame Aktivitäten der ganzen Klasse (z.B. Schulausflug)
  2. „Umsitzen“: Veränderung des eigenen Sitzplatzes im Klassenzimmer
  3. Zeiteinteilung und Einteilung der Arbeitsschritte bei individuellen Aufgabenstellungen (z.B. Wochenplan, Lernbuch, Freiarbeit)
  4. Auswahl von Projekten / Themenbereichen
  5. Einteilung von Diensten (Kehrdienst, Tafeldienst, Garderobendienst, Postdienst, Obstdienst, Blumengießdienst)
  6. Gesprächsformen in der Klassengemeinschaft (z.B. Sitzkreis, Stuhlkreis)
  7. Erstellung und Vereinbarung von Regeln (z.B. Schulregeln, Klassenregeln, Verhaltensregeln)
  8. Wahl des Arbeitspartners bei Gruppenarbeit
  9. Wahl der Aktivitäten beim Sport (z.B. Ballspiele, Gymnastik, Fitnesstraining)
  10. Spielezeit, als Zeit, in der frei gewählt werden kann, was man spielt und mit wem man spielt
  11. Streit zwischen Kindern

Für diese Situationen wurden Fallvignetten (FV) konstruiert, die eine Entscheidung einforderten und mit einem standardisierten Antwortmodus gekoppelt waren. Basis der Fallvignetten war eine Auswahl aus den genannten schulischen Beispielen / Situationen, die durch Beispiele aus dem Erfahrungsschatz einer Lehrerin / Literatur ergänzt wurden. Sie wurden ausgewählt soweit sie als Bildergeschichten zu gestalten waren. Die Schülerinnen und Schüler betrachteten direktive und partizipative FV in gleichmäßig abwechselnder Reihenfolge, d.h. jedes Kind sah vier direktive und vier partizipative FV im Wechsel. Schulen mit dem Schulprofil Inklusion konnten mit Schulen ohne Schulprofil Inklusion in einer annähernd gleichmäßigen Verteilung verglichen werden. Der Adressatenkreis wurde auf die Jahrgangsstufen 2, 3 und 4 erweitert. Im Juni 2018 erfolgte der Pretest an einer inklusiven Schule in Bayern. Die 101 befragten Kinder kamen aus den Jahrgangsstufen 2 bis 4. Der Pretest wurde ausgewertet und validiert. Zusätzlich erfolgte im Rahmen eines Seminars an der Katholischen Universität Eichstätt eine weitere Validierung: Studierende besprachen mit teilnehmenden Kindern die FV in Kleingruppen. So konnte auch an dieser Stelle ein aktiver Einbezug der Kinder in die Forschung erreicht werden. Im Ergebnis wurde das Instrument angepasst und verschlankt.

DURCHFÜHRUNG DER QUANTITATIVEN UNTERSUCHUNG

Die Umfrage der quantitativen Untersuchung (Erhebung II) wurde mit dem Programm limesurvey konzipiert. Insgesamt nahmen 508 Kinder (n=508) der Jahrgangsstufen 2,3 und 4 an der Erhebung teil. Alle Befragten bearbeiteten die Umfrage auf Tablets mit Kopfhörern. Die individuelle Bearbeitungszeit erschien gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Einbindung sehr heterogener Gruppen sinnvoll. Die Kopfhörer ermöglichten einen völligen Verzicht auf das geschriebene Wort. Der Text konnte beliebig oft angehört werden. Die gleichzeitige Befragung von bis zu 22 Kindern wurde in ruhigen Räumen in den Schulen der befragten Kinder durchgeführt. Störfaktoren von außen konnten vermieden werden. Die klassische Art der technischen Realisierung einer online Umfrage mit limesurvey wurde aus datenschutzrechtlichen Gründen verworfen. Eine eigene netzwerkinterne Umfrage wurde entwickelt[2]. So konnte garantiert werden, dass die Daten intern bleiben und geschützt sind.

[2] Dank an Lucas Bartosch für die Ermöglichung dieser Vorgehensweise

 

AUSGEWÄHLTE ERGEBNISSE DES FORSCHUNGSPROJEKTS

Das Instrument funktioniert weitgehend klassenstufenunabhängig. Das Verständnis des Instruments variiert mit dem Migrationsanteil der Kinder an der Schule, d.h. desto höher der Migrationsanteil an einer Schule ist, desto weniger Fallvignetten werden korrekt beantwortet. Direktive Fallvignetten werden häufiger korrekt beantwortet als partizipative.

Die Mehrheit der Kinder erlebt wenig Partizipation im Schulalltag (Siehe Tabelle 1 auf dem Poster „Bildung in inklusiven Klassen“). Mehr als 70% der befragten Kinder wünscht sich mehr Partizipation (Siehe Tabelle 2 auf dem Poster). Die Befunde in Tabelle 1 und 2 spiegeln sich auch deutlich in anderen Teilen unserer Untersuchung wieder. Zu nennen sind die Aussagen der Kinder in der qualitativen Untersuchung. Hier wünschen sich Kinder mehr Partizipation und erleben wenig Partizipation.

Insgesamt liegt am Ende des Projekts ein validiertes Instrument vor, das es möglich macht ganze Klassen hinsichtlich ihrer erlebten und gewünschten Partizipation zu befragen. In einem Folgeprojekt, wurde das Instrument als Partizipationsmonitor (PaMo) eingesetzt und erprobt.

  • Studentin: „Warum sollte es bei dir in dieser Situation … Klasse und Lehrer bestimmen?“ Kind: „Kinder sind unglücklich, wenn sie nicht mitreden dürfen.“

    (Aussage eines Kindes im Gespräch mit Studentin, Frage 4)

LITERATUR

Bartosch, Christiane/Bartosch, Ulrich/Thomas, Joachim (2018): Vertrauen und Selbstvertrauen. Partizipatorische Pädagogik als Bedingung von Inklusion. In: Bartosch, Ulrich/Schreiber, Waltraud/Thomas, Joachim (Hrsg.): Inklusives Leben und Lernen in der Schule. Berichte aus dem Forschungsverbund zu Inklusion an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. 277-311.

Bartosch, Ulrich/Knauer, Raingard/Bartosch, Christiane/Bleckmann, Johanna/Grieper, Elena/Maluga, Agnieszka/Nissen, Imke (Hrsg.) (2015): Schlüsselkompetenzen pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen für Bildung in der Demokratie. Kiel: Fachhochschule Kiel.

Boban, Ines/Hinz, Andreas (2004): Der Index für Inklusion – ein Katalysator für demokratische Entwicklung in der „Schule für alle“. In: Heinzel, Friederike/Geiling, Ute (Hrsg.): Demokratische Perspektiven in der Pädagogik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. S. 37–48.

Die Salamanca Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse. Salamanca Erklärung (1994).

Mayring, Philipp (2002): Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken. 5. Auflage. Weinheim: Beltz Juventa.

Trautmann, Thomas (2010): Interviews mit Kindern. Grundlagen, Techniken, Besonderheiten, Beispiele. 1. Aufl. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

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