HISTORISCHE ORIENTIERUNGSGELEGENHEITEN

EINE THEORIE ZUR BERÜCKSICHTIGUNG VON DIVERSITÄT FÜR DIE ANREGUNG HISTORISCHER DENKPROZESSE

Projektverantwortliche

Prof. Dr. Waltraud Schreiber & Benjamin Bräuer

Promotionsprojekt im Rahmen des Teilforschungsprojekts
„Historische Orientierungsgelegenheiten. Teilprojekt der Theorie und Didaktik der Geschichte“
Verantwortlicher: Benjamin Bräuer

Projektlaufzeit: 2014-2016

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EINORDNUNG UND ZIELSETZUNG

Im Geschichtsunterricht muss bei der Konzeption von Lerngelegenheiten von unterschiedlichen Wissensständen, vorgängigen Orientiertheiten und Kompetenzausprägungen der Lernenden ausgegangen werden. Desiderata einer inklusiven Geschichtsdidaktik sind u.a. theoretische Ansätze, die aus fachlichen Grundlagen heraus differenzierte Möglichkeiten aufzeigen, solche Unterschiede reflektiert zu fassen und Lernprozesse daran anzusetzen.
International gilt „historische Orientierung“ als zentrale Funktion von Geschichte und die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft sich durch Geschichte zu orientieren als die zu fördernde übergeordnete Kompetenz. Lerntheoretisch betrachtet werden die dafür notwendigen Kompetenzbereiche insbesondere gefördert, wenn historische Orientierungsprozesse tatsächlich vollzogen und reflektiert werden. Die Theorieerweiterung des Projekts ‚historische Orientierungsgelegenheiten‘ zielt auf die Initiation solcher Lernprozesse am gemeinsamen Gegenstand in heterogenen Klassen.
Zentral ist dabei das Moment der ‚Irritation‘. Dies bedeutet, dass eingespielte Routinen und vorgängige Orientiertheit infrage gestellt werden, weil Subjekte in ihren (vermeintlichen) Gewissheiten irritiert werden und so ein Bedürfnis nach Neuorientierung entsteht.
Das Ergebnis der Theorieerweiterung soll also im Kern zwei Dinge erklären:

  1. Warum treten Irritationen historischer Orientiertheit auf und wie können sie für disziplinbezogenes Denken und Lernen genutzt werden?
  2. Wie kann in intentionalen Lehr-Lernprozessen das Potenzial erhöht werden, dass Schülerinnen und Schüler produktive Irritationen erfahren, die sie in der (Weiter-)Entwicklung ihrer historischen Kompetenzen und dem Aufbau strukturierenden/ kategorisierenden Wissens unterstützen.

Um Gelegenheiten zu gestalten, in denen ‚Irritationen‘ als Anlass individueller Lernprozesse nutzbar gemacht werden, erfasst das Projekt die daran beteiligten Faktoren: die Struktur vorgängig entwickelter historischer Orientiertheit (z.B. erreichte Kompetenzausprägungen und Wissensstände), die Struktur von Indikatoren für vorhandene Irritationspotenziale in unterrichtlich relevanten Situationen (z.B. Einstiege, Unterrichtsgespräche, Arbeitsmaterialien) sowie die Bedingungen möglicher Irritationen als Auslöser von Lernprozessen, und deren Ausdifferenzierung in unterschiedliche Dimensionen.

FORSCHUNGSSTAND UND METHODIK

Die Hypothesenbildung für die angezielte Theorieerweiterung erfolgt über einen trans- bzw. interdisziplinären Ansatz: Einen Ausgangspunkt bietet die ‚Philosophie der Orientierung‘ (Werner Stegmaier). Sie beansprucht, Orientierung als ein Meta-Phänomen zu beschreiben, das auch alle disziplinären Orientierungsprozesse betrifft. Dieser Ansatz scheint insbesondere deshalb vielversprechend, da der philosophische Orientierungsbegriff das Konzept der Irritation beinhaltet, das die vorgängig entwickelten Strukturen mitberücksichtigt und deren Infragestellung durch Orientierungssituationen bereits als Ausgangspunkt für die Re-Organisation der irritierten Orientiertheit konzipiert. Den zweiten Ausgangspunkt bilden geschichtstheoretische Forschungen, die die Struktur orientierungswirksamen historischen Wissens (Jörn Rüsen) sowie den Prozess und die Kompetenzbereiche, die dieses generieren (FUER-Gruppe), differenziert erfassen.
Die Ergebnisse der fokussierten Erschließung des Forschungsstandes werden anschließend hinsichtlich der Möglichkeit untersucht, sie für die Geschichtsdidaktik zu adaptieren.

Ausgehend von der reflektierten Grundlagenanalyse erfolgt eine produktiv-synthetisierende, auf die Disziplin der Geschichtsdidaktik bezogene Theorieerweiterung mit pragmatischer Absicht. Damit stellt sie sich der Herausforderung, bereits vorliegende theoretischen Grundlagen und die angezielten Vertiefungen und Erweiterungen so präzise auf den Punkt zu bringen, dass der Elementarisierung für die Pragmatik keine verkürzende und verfälschende Reduktion innewohnt. Dadurch soll eine praxisrelevante Forschung betrieben werden, die durch methodische und theoretische Strenge erkenntnisgenerierend ist, und durch theoriefundierte Elementarisierung zugleich praxisleitend sein kann.

AUSGEWÄHLTE ERGEBNISSE MIT PRAGMATISCHER ABSICHT

Eine pragmatische Verwendungsmöglichkeit der Theorieerweiterung ist es, in der Unterrichtsplanung mit Irritationen verbundene Lernpotenziale bewusst zu berücksichtigen, tatsächlich stattfindende Irritationen im laufenden Unterricht zu erkennen und Irritationen und ihre Bedeutung in die Reflexion von Lernprozessen miteinzubeziehen. Indem Orientierungsgelegenheiten unterschiedliche Irritationspotenziale als produktiven Ausgangspunkt von Orientierungsprozessen an einem gemeinsamen ‚Lerninhalt‘ intendieren, kann auf die Problematik formaler, institutionalisierter Lernprozesse reagiert werden, z.B. dass – etwa durch die Lehrplanbindung des Geschichtsunterrichts – häufig festgelegt ist, wann welcher Inhalt mit welcher Lerngruppe behandelt werden soll. Der Ansatz setzt also nicht voraus, dass Schülerinnen gegenstandsbezogene Orientierungsbedürfnisse schon explizit in Lernsituationen ‚mitbringen’, sondern eruiert Möglichkeiten dafür, dass sich alle Schülerinnen und Schüler am gemeinsamen Inhalt mit ihren jeweils eigenen Orientierungsbedürfnissen auseinander setzen können.

Als grundlegende Heuristik für die Antizipation und Analyse von Irritationspotenzialen konnte aus geschichtstheoretischer bzw. -didaktischer Perspektive eine Dimensionierung vorgenommen werden.

Auf Grundlage der theoretischen Vertiefungen und Erweiterungen wurden Prinzipien begründet, wie Orientierungsgelegenheiten generell konstruiert werden können, damit sie ein hohes Potenzial für die Irritationen historischer Orientiertheit und für darauf aufbauende Lernprozesse aufweisen. Als Ausgangspunkt ist es sinnvoll, kategorial – etwa über übergeordnete menschliche Grundkonflikte – das Potenzial eines (vorgegebenen) Inhalts dafür zu erschließen, an ihm historische Orientiertheiten, die Lernende mitbringen, zu verdeutlichen. Gerade bei inklusivem Lernen gilt es in einem zweiten Planungsschritt möglichst zu antizipieren und zu berücksichtigen, mit welchen Erschließungsmöglichkeiten (z.B. zusammenfassende Begriffe, Ausprägung prozessbezogener Kompetenzen, Möglichkeiten den Inhalt zu kontextualisieren) die Schülerinnen und Schülern sich mit den Themen und den daran gebundenen Materialien auseinandersetzen könnten.
Irritationspotenziale setzen voraus, dass Einzelheiten innerhalb der Situation als Indikatoren auf Zusammenhänge innerhalb der individuellen Orientiertheit verweisen, die als wichtig für das eigene Planen und Handeln erscheinen. Genau solche Indikatoren gilt es bei der Thematisierung des Inhalts sowie der Materialauswahl bzw. -gestaltung hervorzuheben. Schließlich geht es darauf aufbauend darum, produktive Irritationen als Orientirungsgelegenheiten unter Berücksichtigung der vorhergehenden Analysen zu antizipieren und zu ‚platzieren‘. Die Situation sollte möglichst so gestaltet sein, dass Fragestellungen und die Materialien zwar auf Zusammenhänge innerhalb der vorgänigen historischen Orientiertheit verweisen, diese jedoch (vorübergehend) außer Kraft setzen oder fraglich werden lassen, weil eine Passung zwischen der eigenen Struktur und Zusammenhängen in den vorliegenden Angeboten nur bedingt möglich ist.

Das Potenzial von Irritationen kann erhöht werden, indem mehrere und in unterschiedlichen Dimensionen liegende Irritationspotenziale berücksichtigt werden. Stellschrauben für eine Streuung solcher Potenziale sind etwa inhaltliche Schwerpunkte, betroffene Kompetenzbereiche oder Niveauunterschiede. In der Orchestrierung des Unterrichts sollten solche Unterrichtsgespräche eingeplant werden, die für die Entwicklung von Irritationen geeignet sind. Gerade die Auseinandersetzung mit ‚fremden‘ Perspektiven auf ein Thema oder kontroverse Deutungen eines Inhalts können die als selbstverständlich angenommene Exklusivität des eigenen historischen Orientierens irritieren und dabei neue Lernpotenziale freisetzen. Unterrichtsgespräche bzw. Lehrer-Schüler-Gespräche sind darüber hinaus nötig, um stattgefundene Irritationen überhaupt zu erkennen und deren Aufgreifen zu unterstützen, bevor sie verdrängt oder durch zu naive Lösungen innerhalb fachlich untriftiger Rahmentheorien oberflächlich gelöst werden. Sofern es gelingt, das Aufgreifen der Irritationen reflektiert zu erkennen bzw. zu unterstützen kann daran die passende Kompetenzförderung angesetzt werden, die zur idealerweise verbesserten Re-Organisation der historischen Orientiertheit führt.

LITERATUR (AUSWAHL)

Bräuer Benjamin, unter Mitarbeit von Schreiber, Waltraud (2018): Diversität als Motor von Lernprozessen. Über die „Irritation“ durch „fremde“ Umgangsweisen mit Geschichte und deren Nutzen für die Entwicklung der Kompetenzen historischen Denkens. In: Bartosch, Ulrich, Schreiber, Waltraud, Thomas, Joachim (Hrsg.): Inklusives Leben und Lernen in der Schule. Berichte aus dem Forschungsverbund zu Inklusion an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. S. 105-132.

Bräuer, Benjamin/ Schreiber, Waltraud (2016): Orientierungsgelegenheiten – Theoriebildung für gemeinsames Geschichtslernen in inklusiven Klassen. In: Kühberger, Christoph/ Schneider, Robert (Hrsg.): Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 85-102.

Hasberg, Wolfgang/ Körber, Andreas (2003): Geschichtsbewusstsein dynamisch. In: Körber, Andreas (Hrsg.): Geschichte – Leben – Lernen. Bodo von Borries zum 60. Geburtstag. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 177-200.

Körber, Andreas/ Schreiber, Waltraud/ Schöner, Alexander (Hrsg.) (2007): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried: Ars una.

Rüsen, Jörn (2013): Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u.a.: Böhlau.

Schreiber, Waltraud (2007): Kompetenzbereich Historische Orientierungskompetenzen. In: Körber, Andreas/ Schreiber, Waltraud/ Schöner, Alexander (Hrsg.): Kompetenzen his-torischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried: Ars una, S. 236-264.

Schreiber, Waltraud/ Bräuer, Benjamin (2018): Praxismodule als „Ort“, Unterrichten und Forschen zu lernen. Das Konzept „Orientierungsgelegenheiten“ erproben und Wirksamkeitsforschung vorbereiten. In: Fenn, Monika (Hrsg.): Frühes historisches Lernen. Projekte und Perspektiven empirischer Forschung (Geschichtsunterricht erforschen, Bd. 7). Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 239-269).

Stegmaier, Werner (2008): Philosophie der Orientierung. Berlin/ New York: de Gruyter.

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