PROMOTIONSPROJEKT M. HERZOG

Inklusionssensibles pädagogisches Handeln am Beispiel von Gruppenmusiziersituationen

(ARBEITSTITEL DES DISSERTATIONSVORHABENS MELANIE HERZOG)

Projektverantwortliche

MELANIE HERZOG

Promotionsprojekt unter der Leitung von

Prof. Dr. Daniel Mark Eberhard
Professur für Musikpädagogik und Musikdidaktik

Projektlaufzeit: 2017-2020

Poster herunterladen (deutsch)

 

Poster herunterladen (englisch)

 

Bericht herunterladen (deutsch)

 

Bericht herunterladen (englisch)

 

ZUSAMMENFASSUNG

Die Unschärfe des Begriffs Inklusion sowie die Normativität des Inklusionsdiskurses stellen eine besondere Herausforderung deskriptiv-analytischer Forschungsarbeiten in diesem Bereich dar. Es fehlt eine Grundlagentheorie, mithilfe derer die Komplexität pädagogischen Handelns abgebildet wird, ohne normative Vorgaben zu machen. Die Fokussierung auf Ambivalenzen scheint dabei eine gewinnbringende Möglichkeit darzustellen. Dementsprechend liegt der Arbeit die zentrale Forschungsfrage zu Grunde:

Inwiefern kann eine ambivalenzbezogene Perspektive die (musikpädagogische) Diskussion um Inklusion erweitern?

Dafür wird auf Grundlage von im Inklusionsdiskurs beschriebener Ambivalenzen sowie auf Grundlage struktureller Professionalisierungsantinomien (Helsper 2004, 2010) ein Theorieansatz inklusionssensiblen pädagogischen Handelns entwickelt, welcher anschließend in seinen Möglichkeiten und Grenzen für Theorie, Praxis und Empirie diskutiert wird.

PROBLEMSTELLUNG

Innerhalb der Fachliteratur herrscht Einigkeit über die unklare terminologische Verwendung des Begriffs „Inklusion“ (vgl. u.a. Katzenbach, 2016, S. 17). Dies hat für empirische Bildungsforschung weitreichende Folgen, welche sich beispielsweise in der Schwierigkeit der Operationalisierung oder in der Immunisierung des Konzeptes auswirkt (Grosche, 2015, S. 22). Jörg Schlee (2012) weist darüber hinaus auf das Risiko von „Missverständnisse[n], Planungsungenauigkeiten und Durchführungsschwierigkeiten“ (ebd., S. 103) ein unklares Begriffsverständnis hin. Somit avanciert die Unschärfe des Begriffs Inklusion als Herausforderung für Forschungsarbeiten in diesem Bereich. Eine weitere Herausforderung besteht durch den größtenteils normativ aufgeladenen pädagogischen Inklusionsdiskurs. Wenngleich eine Ausrichtung an Normen und Werten als unumgänglich für den Fachbereich Pädagogik angesehen wird (Böhm & Seichter, 2018, S. 350), stellt sie pädagogische Forschung vor die Herausforderung des angemessenen Umgangs (Hummrich & Kramer, 2011, S. 218; Tenorth & Tippelt, 2012, S. 531). Durch präskriptive Definitionen sowie die „Verwobenheit von Normativität und Methode bzw. analytischer Erkenntnisoperation“ (Demmer & Heinrich, 2017, S. 179) entsteht die Gefahr, im Vorhinein auf bestimmte Ergebnisse festgelegt zu sein oder analytisch-deskriptiver Forschung entgegenzuwirken (vgl. auch Stöger & Ziegler, 2013, S. 5).

Beide Herausforderungen erschweren deskriptiv-analytische Forschungsarbeiten im Bereich Inklusion. Mögliche Umgangsweisen mit diesen Herausforderungen stellen Ansätze dar, welche eine nicht-normative Definition zugrunde legen und / oder die Konflikthaftigkeit und Ambivalenz von Inklusion aufgreifen [1]. Der Fokus auf Ambivalenzen scheint dabei besonders gewinnbringend, da hierdurch Hinweise zu Konfliktpotenzial hinsichtlich gesellschaftlicher oder institutioneller Rahmenbedingungen sowie zu situationsbedingten Passungsverhältnissen ernst genommen werden. Auch die inter- und intradefinitorische Unschärfe des Begriffs sowie Widersprüchlichkeiten zwischen verschiedenen, aber auch innerhalb verschiedener Ansätze drängen eine genauere Betrachtung dieser Ambivalenzen geradezu auf. Dennoch existiert bisher keine Theorie von Inklusion, welche 1) von normativen Vorgaben im Sinne eines vorgegebenen „Richtig“ oder „Falsch“ Abstand nimmt, 2) die Perspektive von Konflikthaftigkeit und Ambivalenz abbildet sowie 3) die Thematik in der Komplexität und mit mehrperspektivischen Einbezug der strukturellen Bedingungen präzise zu fassen vermag. Diesem Desiderat wendet sich die vorliegende Forschungsarbeit mit der Fokussierung auf pädagogisches Handeln zu.

[1] Beispielhaft sei hier auf die reflexive Inklusion von Budde und Hummrich (2015), die Theorie der trilemmatischen Inklusion von Boger (2015), die Beschreibung des Integrations-Inklusions-Teilhabe-Modell von Kastl (2016) sowie die Ausführung verschiedener Spannungsfelder von Speck-Hamdan (2015) verwiesen.

FRAGESTELLUNG, ZIELSETZUNG UND VORGEHEN

Auf Grundlage der skizzierten Problemstellung lautet die zentrale Fragestellung des Promotionsprojekts:

Inwiefern kann eine ambivalenzbezogene Perspektive die (musikpädagogische) Diskussion um Inklusion erweitern?

Für die Beantwortung ergeben sich mehrere Leitfragen, welche in unterschiedlichen Abschnitten der Arbeit bearbeitet werden:

  1. Welche Ambivalenzen werden innerhalb des Inklusionsdiskurses beschrieben? Wie können sie zu einer Theorie zusammengefasst werden?
  2. Wie kann die ambivalenzbezogene Perspektive innerhalb empirischer musikpädagogischer Forschung beispielhaft umgesetzt werden?
  3. Was ermöglicht die ambivalenzbezogene Perspektive in Bezug auf Inklusion? Wo bestehen Grenzen?

Ziel der Arbeit ist ein Beitrag zu einer differenzierten (musikpädagogischen) Inklusionsdebatte unter Einbeziehung von Erkenntnissen der Allgemeinen Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Soziologie. Dies soll auf Grundlage der Vorarbeiten durch eine nicht-normative Herangehensweise geschehen, welche eine klare Eingrenzung auf einen spezifischen, eindeutig definierten Bereich von Inklusion bearbeitet und dennoch – innerhalb dieser Eingrenzung – die Multiperspektivität und Komplexität des Themas Inklusion verdeutlicht. Die Fokussierung auf Ambivalenzen scheint aus der Inklusion inhärenten ambivalenten Konstitution unumgänglich, um dieses Ziel zu erreichen.

Verwirklicht wird das Ziel innerhalb der Forschung durch die Genese einer Theorie inklusionssensiblen pädagogischen auf Grundlage von Ambivalenzen sowie deren Diskussion. Zur Beantwortung der Frage werden zunächst mithilfe einer Literaturrecherche Dilemmata, Antinomien, Spannungsfelder und Paradoxien des Inklusionsdiskurses benannt und geordnet. Diese werden verknüpft und erweitert mit dem Ansatz struktureller Professionalisierungsantinomien von Helsper (2004, 2010). Darauf aufbauend wird ein Theorieansatz entwickelt, welcher aufzeigt, wie Inklusion aus einer antinomischen Perspektive mehrperspektivisch verstanden werden kann. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird beispielhaft dargestellt, wie mithilfe dieses Theorieansatzes theoretisch-reflexiv, praktisch und empirisch gearbeitet werden kann. Als empirischer Teil werden dabei Aushandlungsprozesse zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen in Gruppenmusiziersituationen auf Grundlage der Antinomie zwischen Freiheit und Zwang untersucht. Die empirische Forschung ist als Videographie konzipiert, als Auswertungsmethode wird die Video-Interaktionsanalyse nach Tuma et al. (2013) genutzt.

BISHERIGE ERGEBNISSE

Wie bereits eingangs beschrieben, stellt die Verortung eines empirischen Projekts im Inklusionsdiskurs bereits eine Herausforderung dar (Grosche, 2015). Der Vielschichtigkeit des Begriffs wird innerhalb der Arbeit mithilfe einer Systematisierung begegnet, welche sich in Ebenen von Inklusion, inhaltliche Differenzlinien und Definitions¬¬gruppen unterteilt. Daneben wird die Normativität des Inklusionsdiskurses herausgearbeitet und bereits existierende Umgangsweisen skizziert. Die ausführliche Bearbeitung der beiden Herausforderungen wird auf Grundlage der Problemstellung bereits als erstes Forschungsergebnis betrachtet. Ein weiteres Ergebnis stellt die Auflistung und Systematisierung von über 50 innerhalb der Literatur gefundenen Ambivalenzen dar. Diese werden mithilfe des Theorieansatzes struktureller Professionalisierungsantinomien (Helsper, 2004, 2010) verknüpft, indem sie einerseits kritisch hinsichtlich Vollständigkeit hinterfragt werden. Andererseits dienen die gefundenen Ergebnisse dazu, diesen bereits etablierten und erforschten Ansatz für das Feld der Inklusion zu spezifizieren.

Die Entwicklung eines eigenen Theorieansatzes inklusionssensiblen pädagogischen Handelns auf Grundlage der Verknüpfungen stellt ebenfalls ein Ergebnis der Forschung dar. Dieser fokussiert die Ambivalenzen der Inklusion und deren reflexive Bearbeitung aufseiten von Lehr- und Leitungspersonen. Der Theorieansatz basiert auf der soziologischen Perspektive von Inklusion und Exklusion, dem fundamentalen Spannungsverhältnis von Inklusion zwischen Universalismus und Individualismus sowie weiteren Komplexitätsfaktoren. Innerhalb dieser Perspektive wird inklusionssensibles pädagogisches Handeln einerseits als Vermittlungsakt zwischen dem Spannungsfeld von Individuum und Umwelt und andererseits als permanente situative Bearbeitung konstitutiver, in pädagogischen Settings unvermeidlicher Antinomien betrachtet. Dadurch wird kein normatives Gerüst für „richtiges“ oder „falsches“ Handeln dargestellt, sondern vielmehr ein nicht-normativer Reflexions- und Analyserahmen, welcher die Kontext- und Situationsabhängigkeit der durch die Spannungsfelder und Antinomien entstehenden Entscheidungen betont.

Geplant ist darüber hinaus die Diskussion der Ergebnisse hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen des Ansatzes bezüglich Theorie, Praxis und Empirie. Um die Frage zu beantworten, wie diese Theorie innerhalb (musikpädagogischer) empirischer Forschung fruchtbar gemacht werden kann, wird eine empirische Exemplifizierung im Sinne einer qualitativen Ministudie durchgeführt. Dafür werden mithilfe von Videodaten aus Musiziersituationen heterogener Gruppen Aushandlungsprozesse hinsichtlich der Antinomie zwischen Autonomie und Zwang analysiert. Als Auswertungsmethode wird die Video-Interaktionsanalyse nach Tuma, Schnettler und Knoblauch (2013) genutzt. Ziel ist es, mithilfe von Fallrekonstruktionen der Leitungspersonen die unterschiedlichen Umgangsweisen mit der Antinomie, deren Auswirkungen sowie musikpädagogische Spezifikationen aufzuzeigen.

LITERATUR

Böhm, W. & Seichter, S. (2018). Wörterbuch der Pädagogik (UTB, Bd. 8716, 17., aktualisierte und vollständig überarbeitete Auflage). Paderborn: Ferdinand Schöningh.

Boger, M.-A. (2015) Theorie der trilemmatischen Inklusion. In I. Schnell (Hrsg.), Herausforderung Inklusion. Theoriebildung und Praxis (S. 51–62) Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Budde, J. & Hummrich, M. (2015). Inklusion aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive. Erziehungswissenschaft, 26 (51), 33–41. https://www.pedocs.de/volltexte/2016/11569/pdf/Erziehungswissenschaft_2015_51_Budde_Hummrich_Inklusion.pdf [29.01.2019].

Demmer, C. & Heinrich, M. (2017). Doing rekonstruktive Inklusionsforschung? Zu den Schwierigkeiten, methodisch aufgeklärt innerhalb eines normativ aufgeladenen Forschungsfelds zu agieren. In M. Heinrich & A. Wernet (Hrsg.), Rekonstruktive Bildungsforschung. Zugänge und Methoden (Rekonstruktive Bildungsforschung, v.13, S. 177–190). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.

Grosche, M. (2015). Was ist Inklusion? Ein Diskussions- und Positionsartikel zur Definition von Inklusion aus Sicht der empirischen Bildungsforschung. In P. Kuhl, P. Stanat, B. Lütje-Klose, C. Gresch, H. A. Pant & M. Prenzel (Hrsg.), Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Schulleistungserhebungen (S. 17–39). Wiesbaden: Springer VS.

Helsper, W. (2004). Antinomien, Widersprüche, Paradoxien: Lehrerarbeit – ein unmögliches Geschäft? Eine strukturtheoretisch-rekonstruktive Perspektive auf das Lehrerhandeln. In B. Koch Priewe, F.-U. Kolbe & J. Wildt (Hrsg.), Grundlagenforschung und mikrodidaktische Reformansätze zur Lehrerbildung (S. 49–98). Bad Heilbrunn: Klinkhardt, Julius.

Helsper, W. (2010). Pädagogisches Handeln in den Antinomien der Moderne. In H.-H. Krüger & W. Helsper (Hrsg.), Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft (UTB, Bd. 8092, 9. Aufl., S. 15–34). Opladen: Budrich.

Hummrich, M. & Kramer, R.-T. (2011). Zur materialen Rationalität pädagogischer Ordnungen. Die Rekonstruktion pädagogischer Generationsbeziehungen mit der Objektiven Hermeneutik. Zeitschrift für Qualitative Forschung, 12 (2), 217–238

Kastl, J. M. (2016). Musizieren mit allen, Musik für alle? Praktiken, Probleme und Paradoxien musikalischer Inklusion, Integration und Teilhabe. Vortrag bei der Tagung des Verbandes deutscher Musikschulen: „Musizieren mit allen? Perspektiven inklusiver Musikschularbeit.“ 18./19. November 2016 in Reutlingen. https://www.ph-ludwigsburg.de/fileadmin/subsites/3b-ssozt-01/user_files/Kastl_Joerg_Michael_Musizieren_mit_allen__Musik_fuer_alle.pdf [11.07.2019].

Katzenbach, D. (2016). Inklusion, psychoanalytische Pädagogik und der Differenzdiskurs. In R. Göppel & B. Rauh (Hrsg.), Inklusion. Idealistische Forderung, individuelle Förderung, institutionelle Herausforderung (1. Auflage, S. 17–29). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.

Schlee, J. (2012). Was die Suche nach dem angemessenen Weg so schwierig macht. Anmerkungen zur Inklusionsdebatte. In M. Brodkorb & K. Koch (Hrsg.), Das Menschenbild der Inklusion. Erster Inklusionskongress M-V (S. 103–118). Dokumentation. Schwerin: Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern.

Speck-Hamdan, A. (2015) Inklusion: der Anspruch an die Grundschule. In D. Blömer, M. Lichtblau & A.-K. Jüttner (Hrsg.), Perspektiven auf inklusive Bildung. Gemeinsam anders lehren und lernen (Jahrbuch Grundschulforschung, S. 13–22) Wiesbaden: Springer VS.

Stöger, H. & Ziegler, A. (2013). Heterogenität und Inklusion im Unterricht. Schulpädagogik heute, 4 (7). http://www.schulpaedagogik-heute.de/conimg/SH7_41.pdf.

Tenorth, H.-E. & Tippelt, R. (Hrsg.). (2012). Beltz Lexikon Pädagogik (1. Aufl.). Weinheim: Beltz. Tuma, R., Schnettler, B. & Knoblauch, H. (2013). Videographie. Einführung in die interpretative Videoanalyse sozialer Situationen. Wiesbaden: Springer VS.

PROMOTIONSPROJEKT M. HERZOG